Deklaration des Obersten Sowjets der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik
über die Souveränität der Estnischen SSR
vom 16. November 1988
Das Estnische Volk an den Ufern der Ostsee bearbeitet sein Land und entwickelt seine Kultur bereits seit mehr als 5000 Jahren. Im Jahre 1940 wurde der in nationaler Beziehung homogene, souveräne estnische Staat Bestandteil der Sowjetunion; dabei war die Aufrechterhaltung der Garantie der Souveränität und das Aufblühen der Nation vorgesehen. Die innere Politik des Stalinismus und die Zeit der Stagnation haben jedoch diese Garantien und Grundsätze ignoriert. Als Ergebnis davon entstand auf estländischer Erde für die Esten als alt eingesessene Nationalität eine ungünstige demographische Situation, die natürliche Umwelt geriet in vielen Regionen der Republik in eine katastrophale Lage, die andauernde Destabilisierung der Wirtschaft wirkte sich negativ auf den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung der Republik aus.
Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR sieht nur einen Ausweg aus der schwierigen Lage: Die weitere Entwicklung Estlands muß unter den Bedingungen der Souveränität vor sich gehen. Die Souveränität der Estnischen SSR bedeutet, daß ihr in ihrem obersten Regierungs-, Verwaltungs- und Gerichtsorganen die höchste Macht auf ihrem Territorium gehört. Die Souveränität der Estnischen SSR ist einheitlich und unteilbar. In Übereinstimmung damit muß der weitere Status der Republik im Verband der UdSSR durch Vertrag mit der Union bestimmt werden.
Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR drückt sein Nichteinverständnis mit denjenigen zur allgemeinen Beurteilung durch das Volk erlassenen Änderungen und Ergänzungen der Verfassung der UdSSR aus, die das verfassungsmäßige Recht der Estnischen SSR auf Selbstbestimmung ausschließen. Ausgehend von den internationalen Verträgen über wirtschaftliche und soziale Rechte, über die Rechte auf dem gebiet der Kultur, der bürgerlichen und politischen Rechte vom 16. Dezember 1966, die von der Sowjetunion ratifiziert wurden, ferner von weiteren Normen des internationalen Rechts, erklärt das höchste Vertretungsorgan der Volksmacht der Estnischen SSR - der Oberste Sowjet dem Vorrang der Gesetze der Estnischen SSR auf dem Territorium der Estnischen SSR.
Die Änderung und Ergänzungen der Verfassung der UdSSR auf dem Territorium der Estnischen SSR treten in Zukunft nach ihrer Billigung durch den Obersten Sowjet der Estnischen SSR und der Einbringung entsprechender Änderungen und Ergänzungen in der Verfassung der Estnischen SSR in Kraft.
Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR ruft alle auf, die ihr Schicksal mit Estland verbunden haben, sich im Namen des Aufbaus einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaft in Estland zu vereinigen. Die juristische und tatsächliche Verwirklichung der Souveränität bedeutet auch, daß ein beliebiges Gesetz, das die Angehörigen irgendeiner Nationalität in Estland diskriminiert, in Zukunft für das Volk Estlands unannehmbar sein wird.
Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der
Estnischen SSR
A. Rüütel
Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der
Estnischen SSR
V. Vaht
Tallinn, 16. November 1988
Mit dieser Deklaration wurde auch ein
verfassungsänderndes und -ergänzendes Gesetz beschlossen, in dem
1. die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen zum integralen Bestandteil der
Rechtsordnung der Estnischen SSR erklärt wurden;
2. der gerichtliche Schutz von Verfassungsrechten von Bürgern und juristischen
Personen garantiert wurde;
3. das Alleineigentum der Estnischen SSR an Boden, Bodenschätzen, Atmosphäre,
Binnen- und Territorialgewässern und Banken u. s. w. festgelegt wurde;
4. das Privateigentum zugelassen und geschützt wurde;
5. bestimmt wurde, dass Gesetze und andere Normativakte der UdSSR in der
Estnischen SSR erst nach Registrierung durch das Präsidium des Obersten Sowjets
der Estnischen SSR in Kraft treten und andere Normativakte der UdSSR außer Kraft
zu setzen oder in ihrem Wirkungsbereich zu beschränken, wenn sie Fragen regeln,
welche nach der Verfassung der Estnischen SSR zu den eigenen Kompetenzen gehören
oder die Besonderheiten Estlands nicht berücksichtigen;
6. an zehn Stellen der Verfassung wurden die Worte "und gesellschaftliche
Bewegungen" eingefügt.
Außerdem wurde eine Resolution über einen Unionsvertrag beschlossen, in welcher der Oberste Sowjet der UdSSR aufgefordert wurde, solch einen Vertrag auszuarbeiten.
Quelle:
Meissner, Die Baltischen Nationen, Markus Verlag Köln, 1991
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20.
Juli 2007